Vom Leben und Tod Gottes

Der Schriftsteller J. G. Ballard entdeckte ein unerhörtes Gerücht, welches in der Welt kursierte. Es veränderte die Welt, die Menschen und führte dann doch wieder in den Alltag zurück.

Das Gerücht

Free HTML5 Bootstrap Template
Portofreier Brief der Kurie in Sizilien nach Fernetino vom 2. Mai 1857

Es blieb zunächst auf Regierungs- und Forschungskreise in Washington, London und Moskau beschränkt, doch verbreitete es sich auch bald über Afrika, Südamerika und den Fernen Osten. Kaum ein Tag verging, an welchem dieses Gerücht nicht auf die Titelseite der Zeitungen gelangte.

Die Auswirkungen auf die Glaubensgemeinschaften waren enorm, das Gerücht führte zu einer Grundsatzerklärung der Vertreter der großen Weltreligionen und mündete in einer neuen und größeren Kirche, der Vereinten Glaubensgemeinschaft.

 

 

 

 

Der Inhalt

Free HTML5 Bootstrap Template
Unregelmäßigkeit in den Wellen

Die Nachricht von diesem außergewöhnlichen Beschluss zwang die Regierungen der ganzen Welt schließlich zu einer Entscheidung: sie mussten den Inhalt des Gerüchts bekanntgeben und dessen Glaubwürdigkeit untermauern. Eine Plenarsitzung der Vereinten Nationen wurde einberufen, an welcher sich eine beispiellos große Anzahl Delegierter beteiligte. In Aberhunderten von Fernsehkanälen berichteten Kommentatoren davon in alle Welt. Ein Forscher des Radio-Observatoriums von Jodrell Bank in England erläuterte im Rahmen einer Konferenz eine bemerkenswerte Forschungsarbeit:

Diese „Ultra-Mikrowellen“ wurden einer endgültigen Computeranalyse unterzogen, welche hervorbrachte, dass diese Vibrationen eine eigene Intellegenz aufweisen, welche das gesamte Universum durchdringe. Auch das Bewusstsein und der Körper der Anwesenden würden durch dieses intelligente Wesen gebildet.

 

Die Veröffentlichung

Free HTML5 Bootstrap Template
Zeitungsschleife Cape Times vom 5. Februar 1896 von Kapstadt nach Deutschland, dort zweimal weitergeleitet. Der (Kompass-Rad-)Stempel von Kapstadt wurde 1891 ausschließlich für den Zeitungsversand entworfen und verwendet.

Nach Ende dieser Verlautbarung breitete sich tiefe Stille über die Generalversammlung und über die ganze Welt aus. In Städten und Dörfern in aller Welt waren die Straßen öde und leer, der Verkehr ruhte, denn die Menschen saßen wartend und schweigend vor ihren Fernsehgeräten.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen verlas eine von vielen Wissenschaftlern und Theologen unterzeichnete Erklärung: Nach Jahren gründlichster Untersuchungen sei die Existenz einer obersten Gottheit ohne irgendeinen Zweifel bewiesen worden.

Es folgten Schlagzeilen in den Zeitungen der Welt, auch in abgelegenen Gegenden, mit dem Titel: „Gott lebt, höchstes Wesen durchdringt Universum“.

Während der folgenden Wochen wurden Dankgottesdienste abgehalten, große religiöse Prozessionen zogen durch die Straßen und viele Menschen empfingen die Taufe.

 

Der praktische Nutzen

Free HTML5 Bootstrap Template
Phasendrucke DDR 1971
Free HTML5 Bootstrap Template
Kap der Guten Hoffnung, Ausgabe 1863/64 in Smaragdgrün

 

Der eher praktische Nutzen sollte erst folgen. Die Entdeckung von der Existenz der Gottheit wirkte wie eine Soforttherapie, wodurch sich so manche Institution erübrigte.

Obwohl sich Krankheiten nicht an Feiertage halten, blieben die Behandlungsstühle der Ärzte leer, Streitkräfte in aller Welt wurden aufgelöst, Angehörige der Kampfgruppen dienstfrei gestellt.

Nach dem Motto „Wir sind alle Nachbarn“ wird auch die Polizei außer Dienst gestellt, freundschaftliche Beziehungen zu vorher verfeindeten Ländern werden umgehend aufgenommen, die Hoffnung auf ein friedvolles und idyllisches Leben stand im Raum.

Free HTML5 Bootstrap Template
Ausgabe Österreich 1959, ungezähnt mit Passermarke

Das Marketing

Es ergingen ernste Hinweise, dass sich das Bewusstsein von der Existenz Gottes erst noch auf die Vertreter des Königreichs der Tiere ausdehnen müsse. Anfänglich fanden in der allgemeinen Euphorie solche Einzelepisoden aber kaum Beachtung.

Tausende Schaulustige saßen um die Antennenanlagen kommerzieller Fernsehanstalten und jeder Menge anderer Einrichtungen, die entfernt an Radioantennen erinnerten, und warteten geduldig auf eine direkte Botschaft vom Allmächtigen.

Doch allmählich kehrten die Menschen an ihre Arbeit zurück - oder genauer gesagt, es kehrten jene zurück, die ihre Arbeit für moralisch gewinnbringend erachteten. Die Landwirtschaft und die verarbeitende Industrie gehörten dazu, aber die Agenturen, die für den Verkauf ihrer Produkte zuständig waren, befanden sich in einem Dilemma.

 

Auswirkungen auf die Wirtschaft

Der unvermeidliche Niedergang der Wirtschaft und der Industrie schien nebensächlich. Die Mehrheit Europas und der Vereinigten Staaten feierte den neuen Menschen, den Beginn eines friedlichen Nebeneinanders.

Während alteingesessene Werbeagenturen bankrott gingen kümmerten sich die Menschen um das Zusammenleben und ihre Nachbarn in den Städten und Orten.

 

 

Auswirkungen auf die Politik

Free HTML5 Bootstrap Template
Brief vom 1. November 1934 von England nach Australien, vergünstigtes Porto von 1 1/2 Pence für Mitglieder des House of Commons - dort wurde der Brief auch aufgegeben

Was die Welt der Politik betraf, so war ihre ganze raison d'etre - die Anziehungskraft, die sie auf das Geltungsbedürfnis, die Intrigen und die Vetternwirtschaften hatte - zerstört worden. Ein Dutzend Parlamente, vom Britischen Unterhaus bis zum Kanadischen Parlament und dem Kongress der Vereinigten Staaten , sahen sich selbst und ihrer bürokratischen Apparate der Existenz beraubt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die zweite Versammlung

Free HTML5 Bootstrap Template
Ecuador 1944, American Bank Note Company - Probedruck

Eines Tages fand in Jerusalem eine zweite Versammlung der Vereinten Glaubensgemeinschaft statt. Hier stellte ein prominenter Erzbischof öffentlich die wissenschaftliche Sicht der Gottheit als eines Wesens von allumfassender neutraler Intelligenz infrage.

Damit vertrete man zweifellos, bekräftigte der Erzbischof, eine naive und stark vereinfachte Ansicht, die auf primitiven Forschungsmethoden beruhe.

Die Fähigkeit zur Sünde sei eine Vorbedingung für die Erlösung, damit ist Calamity Jane auf dem besten Weg zur Vollkommenheit.

 

 

 

 

Weitere Folgen

Free HTML5 Bootstrap Template
Pitney-Bowes-Stempelmaschine, Type 5308 oder 5318, ab 1963 im Einsatz
Free HTML5 Bootstrap Template
Gegen die Münzknappheit: „Briefmarken-Kapselgeld“ Dänemark mit rückseitiger Werbung

Als hätte der Erzbischof das Stichwort dazu gegeben, ereigneten sich bald darauf in aller Welt spektakuläre Verbrechen.

In Paris zerschlitzte ein Irrer, der im Louvre Amok lief, die Mona Lisa, während in Köln der Hochaltar des Dorns von einer Horde Vandalen entweiht wurde, die offensichtlich gegen die schiere Existenz der Gottheit protestierten.

 

Banküberfälle auf der ganzen Welt, nach dem Vorbild von Kriminalromanen oder auch frei improvisiert, und viele kleinere Diebstähle schlossen sich an, aber auch Kapitalverbrechen gegen Leib und Leben häuften sich, die Medien berichteten ausführlich darüber.

Nach der Festnahme eines bekannten Giftmörders erklärte ein Priester, dass die Schuld des Mannes eigentlich ein Zeugnis seiner Unschuld sei, ein Zeichen für seine Fähigkeit zur letztendlichen Erlösung, welche er in Gott gefunden hätte (der zweite Sieg oder der Advokat des Teufels?)

 

Die Erklärung

Free HTML5 Bootstrap Template

Das vielfältige Nebeneinander des Universums, die Unendlichkeit der Phänomenologie wurde in der Rede eines Metaphysikers auf einem Kongress in Zürich angesprochen. Um alle Möglichkeiten in sich zu vereinen, müsse die Gottheit auch die Möglichkeit ihrer eigenen Nicht-Existenz mit einschließen.

Die Wissenschaftler, welche die Existenz der Gottheit nachgewiesen hatten, wurden nun in vom Fernsehen übertragenen Anhörungen von Gruppen von Anwälten und Theologen aufgefordert, die ursprünglichen Entdeckungen nochmals zu überdenken.

Während die Debatten ihren Lauf nahmen, liefen die Menschen weiterhin in Scharen überall auf der Welt der Vereinten Glaubensgemeinschaft zu. Mysteriöserweise waren jedoch beinahe alle Kirchen geschlossen, auch Moscheen und Synagogen, Heiligtümer und Tempel waren den beunruhigten Mengen versperrt.

Es begann das Gerücht zu kursieren, dass es in Kürze eine Bekanntmachung von weltweiter Bedeutung geben würde, doch sei sie diesmal nur für die Gläubigen bestimmt.

 

 

Die Zweifel

Free HTML5 Bootstrap Template
Ungezähnter Bogenteil der Ausgabe El Salvador von 1896 aus dem Druckereiarchiv der Hamilton Bank Not Company of New York mit vollem Originalgummi

Von der wachsenden Atmosphäre des Unbehagens und der Unsicherheit konnten wenigstens die Nachrichten über Naturkatastrophen ein paar Tage lang ablenken.

In der japanischen Kantô-Ebene auf der Hauptinsel Honshû forderte ein Erdbeben mehr als 100.000 Todesopfer.

Vulkanausbrüche in El Salvador löschten tausende Menschenleben aus.

Die in namhaften Zeitungen zaghaft gestellte Frage „LEBT GOTT WIRKLICH? Glaubensgemeinschaft zweifelt Gottheit an“ wurde auf eine der letzten Seiten verbannt.

 

 

 

 

 

 

Alles wieder beim Alten

Free HTML5 Bootstrap Template

Wenige Wochen vor Weihnachten: Weihnachtsdekorationen schmückten nun endlich die Straßen, und über Tausenden von Kaufhäusern schwebten die vertrauten Gestalten vom Heiligen Nikolaus und seinen Rentieren. Und in Hunderten von Kathedralen fanden für jedermann zugängliche Adventssingen statt.

Zwischen Isreal und dem Iran brach ein Krieg aus, der sowohl mit Raketen als auch mit Cyberwaffen ausgefochten wurde.

Die Kriminalität stieg wieder auf einen Höchststand, währenddessen begann sich in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Europa die Wirtschaft zu erholen - „It‘s All Over Now“ (alles vorbei).

Eingefangen von der Feststimmung beachteten nur wenige Menschen die Zeitungsberichte darüber, was ein Sprecher der Vereinten Glaubensgemeinschaft eine der weitest reichenden und revolutionärsten religiösen Schriften überhaupt nannte, die Enzyklika, mit dem Titel „GOTT IST TOT“.

 

Free HTML5 Bootstrap Template
Stempelmaschine der International Postal Supply Corporation, Modell „4“ mit breiter Wertangabe